Begabungsförderung im Gerechtigkeitsdilemma. Ein soziologischer Blick auf den folgenreichen Umgang mit Potenzialen (und ihrer Prüfung) in der schulischen Bildung
Prof. Dr. Kenneth Horvath
Programme der Begabungsförderung treten häufig mit dem Anspruch an, schulische Bildung gerechter zu gestalten. Gleichzeitig veranschaulichen vielfältige empirische Belege, dass solche Programme stets Gefahr laufen, bestehende Bildungsbenachteiligungen zu reproduzieren. Dieser Vortrag wirft einen von aktuellen Perspektiven der Bildungssoziologie inspirierten Blick auf diese Problematik. Im Fokus stehen die Herausforderungen, vor denen Lehrkräfte stehen, wenn sie in konkreten Situationen des schulischen Alltags die Potenziale individueller Schüler*innen „prüfen“ sollen. Diese Potenzialprüfungen erweisen sich als Schlüssel, um die Gerechtigkeits- und Benachteiligungsdynamiken zu verstehen, die sich rund um Praktiken der Begabungsförderung entfalten können. Diese Potenzialprüfungen sind mit einer grundlegenden Schwierigkeit konfrontiert: ihr Gegenstand ist per definitionem nicht prüfbar, weil Potenziale sich zum Zeitpunkt ihrer Prüfung noch nicht entfaltet haben können. Verschärft werden die Mehrdeutigkeiten, die sich dadurch ergeben, durch den Umstand, dass verschiedene Vorstellungen einer „gerechten Schule“ ko-existieren und damit auch ein unumstößlicher Maßstab zur Bewertung der Angemessenheit von Potenzialprüfungen fehlt. Der politische und pädagogische Umgang mit dieser Unmöglichkeit erweist sich als produktiver Ansatzpunkt zum Verständnis von Prozessen und Praktiken, die Benachteiligungen verfestigen und verschärfen, obwohl sie allgemein als ungerecht wahrgenommen werden und auch umfassend bekannt und erforscht sind. Sie bieten sich damit auch als Ansatzpunkt an, um über professionelle Verantwortungsräume nachzudenken. Zur Kernfrage wird damit, wann und wieso Lehrkräfte die Suche nach Talenten (vorzeitig?) abbrechen, und unter welchen Bedingungen sie diese Suche immer weiter vorantreiben.
Prof. Dr. Kenneth Horvath: Professor für Bildungwissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf beharrlichen Bildungsungleichheiten als Kernproblem der Bildungssoziologie, der Rolle professioneller Wissensordnungen für die Gestaltung von Bildungschancen sowie auf Methoden und Methodologien der Sozial- und Bildungsforschung. In LemaS-Transfer ist er für die Begleitforschung zuständig. Ein Fokus liegt dabei auf der Gestaltung partizipativer und dialogischer Forschungszugänge.